Die Entstehungsgeschichte

Wenige Tage nach Jürgs Beerdigung im März 2007 erhielt ich ein Kondolenzschreiben von Max Sommerhalder, einem altern Freund von Jürg. Obwohl ich immer noch in diesem Schockzustand war, in dieser Lähmung , war mir intuitiv klar, dass diese Worte von Max nicht verloren gehen durften. Liebevolle Worte und schöne Erinnerungen aus einer Zeit, in der ich Jürg noch nicht gekannt hatte, nicht ganz neu für mich, diese Facetten und doch zeigten sie so eindrücklich auf, was Jürg bereits als jungen Mann ausmachte: eine unglaubliche Offenheit den Menschen gegenüber, auch wildfremden Menschen, wie man sie selten antrifft, mindestens in der Schweiz. Eine Offenheit auch gegenüber der Musik, der Welt. – Es war eine Hommage an den Freund. Diese Worte von Max musste ich irgendwie erhalten – und auch die Worte anderer Freundinnen und Freunde, die mich in diesen Tagen erreicht hatten.

Noch am gleichen Tag, an Jürg Graus Grab, war es klar vor meinen Augen: ein Erinnerungsbuch. »Schattierungen von Grau«. Aber erst ein halbes Jahr später begann ich, Freundinnen und Freunde von Jürg anzuschreiben, bat sie um einen Text über oder an Jürg. Ein Jahr nach Jürgs Tod, im Frühjahr 2008, lagen über dreissig Texte auf meinem Tisch. Das Eintreffen dieser Texte – per Post oder E-Mail – war jedesmal schön und spannend, aber gleichzeitig auch jedesmal schmerzhaft. Es haute mich um. Jedesmal aufs Neue. Ich las sie und musste sie wieder weglegen, füllte eine Schachtel damit. Was mir damals nicht bewusst war, war, wie lange der Tod eines geliebten Menschen einen aus der Bahn werfen kann. Gründlich. Man beginnt zwar mit der Zeit nach aussen hin einigermassen »normal« zu leben, zu funktionieren, man meint gar selber, es gehe Schritt für Schritt wieder besser. Tatsächlich war ich aber über Monate wie in einem Kokon gefangen, gelähmt, irgendwie auch unfähig, zu realiseren, was ich überhaupt fühle. Es ist ein »Durcheinanderland«. Mit einem Fuss in der Realität, mit dem anderen im Nichts. Die Zeit bleibt stehen – und gleichzeitig rast sie an dir vorbei. Jedenfalls war ich lange unfähig, auch nur einen Satz über Jürg zu schreiben. Alles, jedes Wort war schwer und trauerdurchtränkt. So kann man nicht an einem Buch arbeiten!

Ende 2009 erreichte mich dann die Nachricht vom Musiker Guerino Mazzola aus den Vereinigten Staaten. Guerino war ein alter Freund von Jürg. Zusammen hatten sie auf der Bühne gestanden, nächtelang hatten sie durchdiskutiert über Gott und die Welt, vor allem aber über Musik und an einem richtigen Jazzclub für die Stadt Zürich. – Guerino schrieb mir, dass seine Frau auch gestorben sei. Am gleichen Krebs wie Jürg. So schwer diese ganze Situation war, so gut tat es, sich mit diesem gescheiten Menschen auszutauschen. Guerino gab mir den Rat, einfach zu schreiben, meine Trauer miteinzubeziehen in mein Schreiben, in dieses Buch. So begann ich endlich damit, die Texte noch einmal zu lesen, sie zu ordnen und in eine mögliche Abfolge zu bringen, Einleitungen zu schreiben und Überleitungen und schliesslich – Ende 2011 – meinen eigenen Text mit meinen eigenen Erinnerungen. Gleichzeitig füllte ich nach und nach eine Kiste mit Fotos aus der immensen – und nicht katalogisierten – Sammlung aus dem Fundus dieser Zeitdokumente dieses so ungewöhnlichen Lebens dieses Mannes.

Und dann? Das Glück, der Zufall oder das Schicksal wollte es, dass ich genau zu dieser Zeit Bekanntschaft mit den beiden Grafikern Josef Schätti und Basil Lehman machte, dieses Duo Infernal der Buchmacherkunst. Die beiden hatten Jürg nicht gekannt, aber sie waren sofort mit im Boot, suchten und fanden den Rahmen, das Layout, die richtige Typographie für all diese Texte, Fotos, Faximiles und Karrikaturen über und von Jürg Grau. Sie gestalteten dieses Buch mit einer Liebe zur Sache und zu Einzelheiten – wie der sichtbaren Fadenbindung -, wie ich es selten gesehen habe. So ist dieses Lese- und Bilderbuch entstanden. So GRAU und bunt und lebendig, so perfekt und unfertig, so improvisiert und durch und durch inszeniert. Es zeigt nicht alles, aber vieles, was diesen Mann ausgemacht hat, mit vielen seiner Schattierungen.

Später, nach der Veröffentlichung, schrieb Christian Rentsch, der ehemalige Tagesanzeiger Jazzkritiker mit der oft scharfen Zunge, im Schweizer Jazz & Blues Magazin über «Schattierungen von Grau: «…perfekt in Inhalt, Form und Aufmachung, aber dank der sichtbaren Fadenbindung anstelle eines festen Buchrückens so, als wäre das ganz allerletzte Wort noch lange nicht gesprochen.» – So ist es.